Abriss ist keine intelligente Option. Für eine klimagerechte Stadtentwicklung kommt es darauf an, die vielfältigen Potenziale im Bestand zu erkennen, neu zu organisieren und nachhaltig verfügbar zu machen. 

Eine Positionierung der Büros denkstatt sàrl und baubüro in situ AG. (Rev. 240603_V0.3, Diskurs: Ben Pohl, Tabea Michaelis, Lena Wolfart, Pascal Angehrn, Julia Büchel; Text: Ben Pohl)

Der Schlüssel zu einer neuen klimagerechteren Baubranche liegt in der Umnutzung und Weiterentwicklung der gebauten Welt.1 Ein wichtiger erster Schritt ist die Forderung nach einem Abrissstop. Dies allein reicht aber nicht: Die Baubranche braucht einen dringenden Kulturwandel in ihren Motiven, Prozessen und Anreizen. Die nachfolgenden Forderungen verstehen sich als Impulse auf politischer und planerischer Ebene und adressieren innovative Eigentümer*innen, die Bestand durch nachhaltige Nutzungen erhalten wollen, um eine enkel*innentaugliche und somit ökologische wie gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung zu ermöglichen. 2

Alle im GWR registrierten Abbrüche in 2023, Auswertung der Rohdaten (B/IAS). Blau: Gebäude mit Wohnen, Magenta: Gebäude ohne Wohnen. (GKAT Klassen 1020-1080).

Im Jahr 2023 wurden in der Schweiz laut GWR 6’458 Gebäude als abgerissen registriert, im Schnitt sind das 2.5 Millionen Tonnen Bauabfall pro Jahr.3 Trotz dieser offenkundigen Wertevernichtung wird noch immer erklärt, Abbruch sei die «sauberste», günstigste und nachhaltigste Lösung zur Schaffung zeitgemässer Ersatzneubauten.4 Doch selbst wenn die erstellten Neubauten die höchsten energetischen Standards erfüllen und in der Ausnützung mehr neuer Wohn- oder Gewerberaum entsteht, diese Abbruch-Rechnung geht vor dem Hintergrund der Klimakrise weder ökologisch, noch sozial, noch volkswirtschaftlich auf, denn es werden in der Kalkulation die Folgekosten der Vernichtung von Ressourcen, die Vergeudung grauer Energie, die Zerstörung sozialer Mehrwerte, Identifikations- und Lebensorte vernachlässigt. Diese sogar volkswirtschaftlich wesentlichen Faktoren spielen bei vielen Abbruchentscheiden kaum eine Rolle. Der unhinterfragte Abbruch von Gewerbebauten und die Vernichtung von bezahlbarem Wohnraum durch teure Ersatzneubauten fügen auf mittlere und lange Sicht unseren Städten und Gemeinden einen grossen volkswirtschaftlichen und sozialen Schaden zu, indem sie die Not bei bezahlbaren Wohn- und Gewerberäumen befördern und in deren Folge soziale Differenzen verstärken. Eine klimagerechte Transformation der Baubranche kommt aus unserer Sicht nicht umher, auch sich selbst und ihre zerstörerischen Strukturen radikal umzugestalten. Die Baubranche muss den Abriss verlernen, aber wie gelingt das? 

Die folgenden fünf Impulse zu einer dringend nötigen Umbaukultur wollen wir zur Diskussion stellen:


#1 Beweisen, dass es anders geht! Guter Stadtumbau geht ohne Abriss, ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltig. 

Zugegeben, es gibt Fälle, in denen ein Bestandserhalt weder ökonomisch, ökologisch noch sozial oder kulturell sinnvoll ist. Die meisten Abbrüche aber sind vermeidbar und die am häufigsten vorgeschobenen Argumente gegen den Bestandserhalt sind die vermeintlich höheren Kosten, die Betriebsemissionen, die Planungsunsicherheiten und ungenutzten Verdichtungspotenziale. In der Praxis zeigt sich aber, dass das genaue Gegenteil der Fall ist, wenn man die Erstellungsemissionen einrechnet, die Potenziale von Gebäudestrukturen, minimalen Eingriffen, möglichen Nutzungen und Nutzer*innen professionell zu erschliessen versteht und eine Ökonomie der langfristigen Stabilität und der sozialen Nachhaltigkeit verfolgt. Erfreuliche Ausnahmen in der Abrisskultur bilden schon jetzt die Denkmalpflege, engagierte Eigentümer*innen oder auch immer mehr junge Architekt*innen, die die Potenziale von Bestandserhalt und Umbau erkennen. Trotz vielfältiger ökonomischer oder ästhetischer Ressentiments, vornehmlich auf Neubau ausgelegter Gesetzeslagen und eingefahrener Planungstraditionen beweisen diese Pionier*innen der Umbaubranche in der Praxis, dass eine andere Baukultur ökonomisch sinnvoll, ästhetisch innovativ und ökologisch nachhaltig möglich ist.

«Von der Politik fordern wir, die Rahmenbedingung und Anreize für die Baubranche auf eine Umbaukultur auszurichten, die den Abbruch zur seltenen Ausnahme macht. Eigentümer*innen wollen wir anregen sich stärker für Bestandeserhalt zu positionieren. Unsere Kolleg*innen wollen wir ermutigen, die praktischen Beweise und Argumente zu liefern, dass Erhalt von Bestand in den meisten Fällen sowohl ökonomisch, ökologisch als auch sozial nachhaltig ist.»


#2 Abrissstop und nun? Gebäude können durch neue Nutzungen dauerhaft ökonomisch geschützt werden, die Strategie heisst «Gebrauchsschutz».

Der reine Abrissstop ist noch keine Lösung, denn die Immobilienbranche hat verlernt, wie eine ökonomisch nachhaltige Nutzungstransformation geht. In der Arbeit unserer Büros Denkstatt sàrl und baubüro insitu AG fokussieren wir daher auf einen der wirksamsten Punkte in der fünfstufigen Nachhaltigkeitskaskade5: den Gebrauchsschutz. Gebrauchsschutz meint, noch vor der Wiederverwertung von gebrauchten Bauteilen, Gebäude durch passende Um- und Weiternutzungen ökonomisch nachhaltig und an-gemessen rentabel vor Abbruch zu bewahren und die baulichen Anpassungen auf diese neuen Nutzungen zu fokussieren. Diese jahrhundertalte Strategie des Sorgetragens, des Bewahrens und des Haushaltens wurde in den letzten Jahrzehnten des Wachstums und der vermeintlich günstigen Ressourcen verlernt.

«Eigentümer*innen, Planer*innen und Politiker*innen, die eine neue Agenda des Gebrauchsschutzes verfolgen wollen, legen wir die folgenden Aspekte ans Herz:

  1. Fragt das Gebäude was es kann! Lage, Infrastruktur, Energetik, Statik, Brandschutz, Typologie, Anbau, Umbau, Aufstockung …?
  2. Findet die Best-Match Nutzer*innen für das Gebäude, bei denen die kleinstmöglichen Anpassungen nötig sind!
  3. Versucht Bestandsnutzungen zu erhalten und mitwachsen zu lassen! Oft zeigen bestehende Nutzungen was ein Best-Match sein kann.
  4. Nutzt Lernprozesse! Finde über Dialog und Pioniernutzungen heraus, welche Raumanforderungen und Mietpreise prototypische, potenzielle und effektive Nutzer*innen brauchen. Mieter*innen und Nutzer*innen sind eure Expert*innen im Gebrauch!
  5. Investiert, baut und kalkuliert Massgenau und Nutzungsbezogen und investiert nur so wenig wie für die jeweilige Nutzung nötig ist. Das sichert angemessene Renditen, ermöglicht dennoch bezahlbare Mieten für vielfältige Nutzungen und vermeidet Leerstand!
  6. Saniert und modernisiert für neuen Gebrauch, nicht für das museale Inventar. Gebäude wurden historisch immer den jeweiligen Anforderungen angepasst.» 

#3 «Lernende Planung» ist der neue Masterplan. Planungskulturen müssen agiler und adaptiver werden, um die Möglichkeitsfenster nachhaltiger Entwicklung zu erreichen.

Anders als in klassisch-linearen Planungen, sind grosse Sprünge in der neuen Umbaukultur die Ausnahme, denn es müssen für eine klimagerechte Bestandstransformation in jedem Einzelfall eine Vielzahl von bestehenden volatilen Faktoren und Variablen in Übereinstimmung gebracht werden. Das Best-Match-Möglichkeitsfenster aus vorhandener Gebäudestruktur, neuen Nutzer*innen, massgenauen Investitionen und ermöglichenden Finanzierungsmodellen ist oft nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Agile Planungsinstrumente und fortlaufende Lernprozesse ermöglichen es jedoch, innovative Lösungen zu entwickeln und Planungen zu justieren. Für eine nachhaltige Umbaukultur braucht es daher keine starren Masterpläne, grosse Würfe oder lineare Verfahren, sondern bewegliche Lernprozesse, Dialogkompetenzen und klare Motive einer sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltigen Transformation.

Zu den wichtigen Instrumenten agiler Planung gehören: Adaptive Planstrukturen der «offenen Form»6, ermöglichende Planungsgremien, Pioniernutzungen/Aktivierungs- und Testphasen im 1:1 Modell, inkrementelle Investitionen und agile Strategien der kleinen Schritte und des Co-Design im Dialog mit dem Ort und den Nutzer*innen.

«Die Kolleg*innen der Gestaltungsdisziplinen wollen wir daher ermuntern «Form und Design» als bewegliche Prozesse zu verste-hen und Co-Autor*innenschaften lieben zu lernen. Die Kol-leg*innen der Planungsbüros wollen wir ermutigen, ihre Wächter-rolle als «Planpolizei» gegen eine ermöglichende Rolle des Plan-Coachings zu wechseln. Eigentümer*innen wollen wir anregen, von Anfang an zu verstehen, dass Pläne immer beweglich sind und diese Chancen zu nutzen, um nachhaltigere Entwicklungen zu rea-lisieren. Die Politik wollen wir auffordern, agile Lernstrukturen und bewegliche Spielregeln im Planungsrecht einer Umbauordnung zu verankern.»


#4 Kooperation und Co-Autor*innenschaften statt Konkurrenz und Leadership.

Die immensen Herausforderungen eines Kulturwandels in der Bauwirtschaft sind nicht von einer einzelnen Disziplin zu meistern. Weder Bauingenieur*innen, Raumplaner*innen, Architekt*innen, Urban Designer*innen, Soziologinnen, Immobilienökonom*innen noch Stadtplaner*innen allein werden die Herausforderungen einer klimagerechten Umbaukultur meistern oder anleiten können. Die Aufgaben gehen sogar über erprobte interdisziplinäre Kooperationen hinaus und sind auf die Kompetenzen und die Expertise der Alltags-Akteure und das «Wissen der Vielen» angewiesen. Inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeitskompetenz, Teamkultur, kooperative Werkstatt-Verfahren und Co-Design/Co-Autor*innenschaften müssen vielfach erst trainiert werden. Eine der grossen Aufgaben und Herausforderungen liegt folglich im Umbau der Planungsprozesse und Planungsinstitutionen zu Plattformen des Wissens-, Dialog- und Möglichkeitenmanagements.

«Eigentümer*innen und Politik wollen wir daher anregen, eine neue kooperative Wettbewerbskultur zu fördern, die weniger auf Konkurrenz der Teams, als auf Kooperation, Wissensaustausch, Dialog und Varianz setzt. Wir können uns die Verschwendung intellektueller Ressourcen und die Frustration der Konkurrenzverfahren schlicht nichtmehr leisten. Unsere Kolleg*innen der Planungs- und Gestaltungsdisziplinen wollen wir ermutigen, interdisziplinäre Teamkulturen für transdisziplinäre Aufgaben zu trainieren, die über die üblichen Wettbewerbsteams hinaus eine agile Zusammenarbeit praktizieren.»


#5 Eine andere Immobilienökonomie ist unvermeidbar. Eine Umbaubranche muss auch die ökonomischen Anreize und Prozesse nachhaltig umgestalten.

Kapitalmarktgetriebene Maximierung der Investitionsvolumen, immobilienökonomisch kurzfristige «Exit-Strategien» und spekulative Gewinnziele gehören strukturell zu den grossen Abbruchtreibern. Eine nachhaltige Baubranche lässt sich daher nicht ohne eine andere Boden- und Immobilienpolitik realisieren, die die politischen Anreize auf langfristigen Bestandserhalt, ökonomische Nachhaltigkeit und Gemeinwohl ausrichtet. Die gute Nachricht für die Baubranche ist: Es gibt genug zu tun und Leistung wird auch im Umbau fair entlohnt, einzig muss mit einer klimagerechten Umbaukultur der Markt von ökologisch und sozial zerstörerischen Geschäftspraktiken befreit werden. Es gilt, das aktuelle Ungleichgewicht aus den gesellschaftlichen Lasten der Klimaanpassung und den privaten Gewinnen der Ressourcenverschwendung aufzulösen. In der aktuellen Situation zeigen vor allem gemeinwohlorientierte und mit ethischen Werten handelnde Immobilieneigentümerschaften wie Genossenschaften, einige Pensionskassen oder Stiftungen, dass eine andere Bau- und Immobilienwirtschaft auch ökonomisch erfolgreich möglich ist.

«Eigentümer*innen, die öffentliche Hand und die Politik wollen wir auffordern, sich die Pionierprojekte ökonomisch nachhaltiger Immobilienentwicklung zum Vorbild zu nehmen. Unsere Kolleg*innen der Planung und Gestaltung wollen wir ermutigen, ge-meinsam an innovativen Gemeinwohlstrukturen und ökonomisch nachhaltigen Finanzierungsstrukturen zu arbeiten und nicht wi-derspruchsfrei jeder Auftraggeberschaft ihre gestalterischen und planerischen Kompetenzen zu leihen.»


Nutzen wir die bestehenden Potenziale im Bestand für eine klimagerechte Stadtentwicklung! Gestalten wir die gebaute Welt und unsere Branche gemeinsam um! «Zusammen, ökologisch, fair umbauen» könnte ein Leitgedanke einer neuen Umbaukultur sein. Denn im Grunde sollten wir dankbar sein: Europa und die Schweiz sind im Wesentlichen gebaut und was gebaut ist, verbraucht keine neuen Ressourcen in der Erstellung. Wir könnten uns voll und ganz auf eine klimagerechte, ökonomisch, ökologisch, sozial und baukulturell nachhaltige Ertüchtigung der gebauten Welt und den Wiederaufbau von durch Krieg und Katastrophen zerstörte Lebensräume konzentrieren.

Das Bauwerk Schweiz hat aktuell 3’081’158 Gebäude im Bestand. Die Karte zeigt alle 2024 im GWR registrierten Gebäude mit Wohnanteil (GKAT 1020,1030,1040), Auswertung der Rohdaten (B/IAS).


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Fussnoten:

  1. Der neue Bericht des «Global ABC Report», der im Zusammenschluss der UNEP, Yale und Global Alliance for Building and Construction entstanden ist, untermalt diese Aussage. (www.buildingmaterialsandclimate.com/chapte-2-life-cycle-thinking/2-3-embodied-emissions-from-end-of-life-to-re-use-and-recycling). ↩︎
  2. Zur Vernichtung dieser immensen Mengen an grauer Energie kommt der Ausstoss zusätzlicher Treibhausgasemissionen, die durch (Ersatz-)Neubauten entstehen. Die Baubranche verursacht 30% der Treibhausgasemmissionen in der Schweiz. Die Erkenntnis, dass in der Weiterentwicklung des Bestandes ein grosses ökologisches und soziales Potenzial liegt, lässt sich in Frankreich an den Arbeiten von den Anne Lacaton und Jean-Philippe-Vasall ablesen, die mit ihrer Devise «Ne jamais démolir» (dt.: niemals abreissen) 2021 den Pritzker-Architekturpreis erhalten haben. (https://www.pritzkerprize.com/laureates/anne-lacaton-and-jean-philippe-vassal) ↩︎
  3. Der Verein «Countdown 2030» spricht von anderen Grössenordnungen, eigene Recherchen im GWR | Eidg. Gebäude- und Wohnungsregister kommen auf 6’458 Gebäude in 2023, für ca. 700 Gebäude waren den GVOL Volumendaten verfügbar, interpoliert ergeben sich zwischen 1800 – 2000 m2 Gebäudevolumen je Gebäude, mit einem Faktor von 20% Abbruchvolumen auf den Kubikmeter Gebäudevolumen, kann eher von 2.5 Mio. Tonnen ausgegangen werden. ↩︎
  4. Die Gründe für Ersatzneubau scheinen vielfältig und reichen von energetischer Erneuerung, Verdichtung/Ausnützung, bis zur Veränderung der Bewohner*innenstruktur. (vgl. https://www.ubs.com/ch/de/private/mortgages/information/magazine/2020/replacement-instead-of-renovation.html) Eine Vielzahl an Beispielen von vom Abriss bedrohten Häusern ist u.a. im „Abrissatlas“ (www.abriss-atlas.ch/de/map/) zu finden.
    ↩︎
  5. Fünf Stufen der Nachhaltigkeitskaskade: 1. Gebrauchsschutz (Erhalt und Weiternutzung des Bestands), 2. Enkel*innentaugliche Planung, 3. Re-Use von Bauteilen, 4. Design to Disassembly, 5. Sortenreine Trennung ↩︎
  6. vgl. Oskar Hansen XI. CIAM (https://archplus.net/de/archplus-features-42-open-form/) ↩︎

Und das ist die gute Nachricht: die Welt ist gebaut.